Das Einhorn und die Jungfrau
Es begab sich zu Zeiten, da sich die Welt teilte, daß am Schnittpunkt der Welten ein Einhorn, das letzte seiner Art, in einem magischen Wald lebte.
In der Mitte des Waldes lebte auch, in einer einfachen Hütte, eine wunderschöne Jungfrau.
Sie war von sanfter und mitfühlender Art und strahlte Reinheit, Klarheit und Liebe aus. Alle Geschöpfe des Waldes liebten sie von ganzem Herzen.
Auch das Einhorn liebte sie innig und beschützte und behütete sie. Es fehlte ihr an nichts und ihre Tage gingen dahin in Freude, Eintracht und Frieden.
Eines Tages verirrte sich ein Prinz in den Wald, der dort das Einhorn gesucht hatte. Sein Hofzauberer hatte ihm erzählt, daß er, sobald er das Horn des Einhorns besitzen würde, alle Macht und allen Reichtum der Welt in Händen halten könnte.
Der Prinz gelangte zur Hütte der schönen und anmutigen Jungfrau und sah, wie sie an der nahegelegenen Quelle mit dem Einhorn spielte. Er versuchte näherzukommen, doch immer, wenn die Jungfrau mit dem Einhorn zusammen war, bildete sich ein heiliger, reiner Schutzkreis um die beiden, der von niemandem in Zeit und Raum durchbrochen werden konnte.
Der Prinz schlich wieder davon und wartete in der Hütte der Jungfrau.
Als sie zurückkam, erschrak sie zunächst über den unerwarteten Besucher. Doch der Prinz verstand, ihr mit verführerischen Worten und Berührungen näher zu kommen. Auch sein Äußeres macht auf sie Eindruck.
Er versprach ihr, sie zu seiner Frau zu machen und alle Macht und Reichtum mit ihr zu teilen, wenn sie helfen würde, ihm das Einhorn zu verschaffen.
Die Jungfrau merkte nicht, wie er ihr das Herz vergiftet hatte mit seinen Betörungen und sie glaubte seinen Versprechungen.
Am nächsten Morgen führte sie ihn aus dem Wald und sie verabredeten, sich bald wieder in der Hütte zu treffen.
Als der Prinz wieder zuhause in seinem Palast war, befragte er den Zauberer, wie er es anstellen könne, den Schutzkreis um die Jungfrau und das Einhorn zu durchbrechen. Der Zauberer antwortete, der Prinz müsse bis Vollmond warten und dann müsse das Einhorn seinen Kopf in den Schoß der Jungfrau legen, wobei ihre Füße im wasser der Quelle baden sollten.
Wenn sie den Prinzen dann näherkommen ließ, könne er sich dem Einhorn nähern und ihm den Kopf abschlagen.
Wenige Tage vor dem nächsten Vollmond begab sich der Prinz wieder in den Wald und zur Hütte der Jungfrau. Die hatte schon sehnsüchtig auf ihn gewartet. Er erzählte ihr, wie sie vorgehen sollte, verschwieg ihr aber, daß er dem Einhorn den Kopf abschlagen wollte, denn er wußte um ihr inniges Band mit dem Einhorn und daß sie dem Handel niemals zustimmen würde, wenn sie sein wahres Vorhaben durchschaut hätte.
So rückte denn die Vollmondnacht heran und die Jungfrau begab sich zur Quelle und rief das Einhorn. Das Einhorn kam, wie immer, freudig und vertrauensvoll ihrer Einladung nach und legte liebevoll seinen Kopüf in ihren Schoß, als sie am Rande der Quelle saß und ihre Füße im Wasser badete.
Der Mond spiegelte sein silbernes Licht in der Quelle und alles schien friedvoll.
Geräuschlos näherte sich der Prinz und die Jungfrau gab ihm ein Zeichen, als das Einhorn die Augen schloß.
Rasch kam der Prinz näher und hieb, zum Entsetzen der Jungfrau, dem Einhorn mit seinem Schwert den Kopf ab.
Triumphierend und lachend reckte er seine Beute dem Mond entgegen. Er verhöhnte und verspottete die Jungfrau ob ihrer Arglosigkeit und ließ sie in ihrem Entsetzen und ihrer Trauer zurück.
Das Wasser färbte sich rot vom Blut des Einhorns. Der Mond spiegelte sich nun rot im Wasser wieder – Blutmond.
Der Leib des Einhorns begann, sich in silbrigen Dunst aufzulösen und zu den Sternen aufzusteigen. Das Einhorn bildete dort ein Gestirnszeichen am Wendepunkt der Zeiten.
Die Jungfrau weinte bitterlich und wandte sich in ihrer Verzweiflung an die göttliche Quelle. Die göttliche Quelle spendete ihr Trost und sprach zu zu ihr, daß zur Erinnerung an diese Tat bei allen Jungfrauen im Alter ihrer Geschlechtsreife das Mondblut fließen würde, frei von Gewalt, um sie einmal in jedem Mond an ihre Reinheit zu erinnern und daß sie diese nie verlieren können.
Die Quelle sagte der Jungfrau aber auch, daß sie am Ende der Zeiten noch einmal die Wahl habe. Im Zeichen des roten Mondes müsse sie dann ihre Entscheidung nochmals treffen, doch die Quelle würde ihr liebevoll beistehen, wenn sie auf die Stimme ihres Herzens hören wolle.
Die Quelle hüllte sie in ihre Liebe und Gnade ein und ließ sie weiter von den Engeln trösten und begleiten.
Als sich die Jungfrau etwas beruhigt hatte, konnte sie in ihrem Herzen die liebevolle Nähe des Einhorns spüren, das ihr Mut machte und ihr versprach, auch das nächste Mal vertrauensvoll seinen Kopf in ihren Schoß zu legen...
(© Balael-Jordan Rajkoff, Crystal Grail, September 2005)